Untersuchungen zeigen, dass auffordernde Verhaltensweisen vor allem bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen – häufig eine Reaktion auf störende Faktoren oder beunruhigende Situationen sind. Krankheitsbezogene Zustände wie Schmerz oder Delir, aber auch Nebenwirkungen von Medikamenten, Frustration oder Langeweile können auffälliges Verhalten auslösen, welches gegenüber anderen Menschen verbal oder sogar durch körperliche Gewalt zum Ausdruck kommen kann. Solch aufforderndes Verhalten ist häufig extrem belastend – für die Betroffenen selbst und für die betreuenden Personen.
In der Vergangenheit hatten derartige Verhaltensweisen mangels geeigneter Alternativen immer wieder dazu geführt, dass mechanische freiheitsentziehende Maßnahmen (feM) zur Anwendung kamen. Diese konnten inzwischen durch Initiativen (z. B. durch den Werdenfelser Weg), durch gesellschaftliche Diskussionen, Aufklärung und Sensibilisierung und auch durch die Gesetzeslage mit einlösender Rechtsprechung deutlich reduziert werden.
Nun sind die Verordnungen von bestimmten sedierenden Psychopharmaka bei älteren Menschen vermehrt ins Blickfeld geraten. Die Idee und Aufnahme dieses Themas ist durch zahlreiche Hinweise an das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) herangetragen worden. Die Beschreibung erheblicher Nebenwirkungen und unerwünschter Ereignisse wie Stürze, Delir oder Schlaganfälle bis hin zu Todesfällen machen bei diesen Verordnungen eine besonders große Sorgfalt erforderlich. Die gängige Verordnungspraxis weist jedoch eine Diskrepanz auf zwischen den restriktiven Empfehlungen der Fachgesellschaften und der tatsächlichen Verordnungsprävalenz bestimmter Medikamente. So wird im Pflegereport 2017 beispielsweise darauf hingewiesen, dass über die Hälfte der analysierten Pflegebedürftigen, die ein Antipsychotikum erhalten, dies entgegen den Fachempfehlungen für mindestens ein Jahr erhalten – wobei ähnliche Dauerverordnungsraten auch bei Anxiolytika, Hypnotika und Sedativa zu finden sind.
Beim inadäquaten Einsatz insbesondere von antipsychotischen Medikamenten, aber auch von Benzodiazepinen und Z-Substanzen, entsteht ein (nicht zu unterschätzendes) Gefährdungspotenzial. Kommt es zu einer Sedierung mit freiheitseinschränkender Wirkung, bezieht sich die Einschränkung nicht nur rein auf die Mobilität, sondern auf den Menschen als Ganzes – nicht nur allein auf die Physis, sondern gerade auch auf die Psyche.
Die Verordnung von Medikamenten obliegt allein dem ärztlichen Personal. Es ist Aufgabe der Pflege, die Umsetzung des Medikamentenregimes zu koordinieren, zu überwachen und beobachtungsrelevante Erkenntnisse interprofessionell zu kommunizieren. Hierfür bedarf es sowohl der Etablierung zielgruppenspezifischer Pflegekonzepte, einer entsprechend hohen Personalqualifikation und Personalbesetzung als auch klientelgerecht gestalteter Rahmenbedingungen. Fehlen diese und werden bei Pflegeproblemen keine Alternativen gesehen, so kommt es vor, dass mit der Information über problematisches Verhalten von Pflegenden oder Angehörigen gleichzeitig die Bitte um Anordnung eines entsprechenden Psychopharmakons verknüpft wird.
Mit dieser Handlungsempfehlung wollen wir alle Berufsgruppen im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen dazu motivieren, die aktuelle Praxis zu hinterfragen, über alternative Konzepte der Versorgung nachzudenken und diese, wo immer möglich, im Sinne der Patientensicherheit an Stelle medikamentöser Ruhigstellung und feM einzusetzen.
Wir würden uns freuen, wenn sich sowohl Ärzt:innen, Pflegende als auch Angehörige um die Umsetzung von Handlungsalternativen bemühen würden. Zudem fordern wir die Entscheidungsträger in Politik und Management auf, die Rahmenbedingungen zu verbessern, die einen wesentlichen Einfluss auf das Gelingen positiver Veränderungen haben.
Für den Praxisalltag wurde das Plakat „Gute Praxis bei aufforderndem Verhalten“ erstellt, das die einzelnen Maßnahmenschritte übersichtlich zusammenfasst.